Die Lebensmittelindustrie in Zeiten von Corona: Gastbeitrag von Chris Sanderson
09.06.2020
Chris Sanderson ist Mitbegründer von The Future Laboratory, einem Londoner Beratungsunternehmen für strategische Zukunftsforschung. Im vergangenen Jahr hielt Sanderson eine spannende Keynote zum Thema „Future of Food“ im Rahmen der Anuga Horion 2050 . Dort gestalteten Visionäre, Innovatoren, Initiativen und Startups aus unterschiedlichsten Branchen die Zukunft der Lebensmittelindustrie, sprachen über neue Technologien und Trends. Da ein solcher Vortrag in diesem Jahr leider ausfällt, kommt der Zukunftsforscher nun in einem Gastbeitrag zu Wort.
In den vergangenen Wochen und Monaten tat sich so einiges in der Lebensmittelindustrie: Lieferketten mussten aufgrund erhöhter Nachfragen umgestellt werden. Restaurantbetreiber mussten ihre Betriebe schließen, der Wunsch nach vermehrten Online-Angeboten wuchs stetig. Wie die Betroffenen mit diesen Umständen umgehen und welche Veränderungen und Potenziale die Corona-Krise laut Chris Sanderson noch mit sich bringt, lesen Sie hier:
So kreativ geht Lebensmittelhandel
Wir waren sehr beeindruckt von der Kreativität sowohl der Lebensmittelhersteller als auch des Einzelhandels bei der Schaffung vollkommen neuer operativer Strukturen, Produktions- und Lieferketten sowie logistischer Prozesse für den Lebensmittelhandel. Lieferanten von Cafés und Restaurants bauten innerhalb von wenigen Tagen direkte Lieferwege auf – etwas, das man vor Corona noch als eine unüberwindbare Herausforderung betrachtet hätte. Über Nacht wurden neue Webseiten erstellt und es entstanden völlig neue Drehscheiben im Lebensmittelhandel. Man darf wohl die berechtigte Hoffnung hegen, dass dieser neue, von der Basis ausgehende und die Communities vor Ort miteinbeziehende Ansatz sowohl in der Beschaffung als auch im privaten Einkauf von Lebensmitteln auch noch lange nach der Rückkehr zu früheren Einkaufs- und Konsumgewohnheiten Bestand haben wird.
Hier eine kleine Auswahl der kreativsten Ideen der Lebensmittelindustrie:
- Media Kitchens: Lieferplattformen arbeiten mit Medienunternehmen und Social Apps zusammen, um gemeinsam virtuelle Restaurants zu etablieren, die Essen mit Unterhaltung kombinieren.
- Discovery Grocers: Von kuratierten Einkaufskörben bis hin zu SMS-Beratern: Online-Lebensmittelhändler stellen Individualisierung in den Mittelpunkt ihres Angebots.
- Virtuelle Happy Hours: Inmitten von Covid-19 und Selbstisolation machen digitale Tools in Kombination mit Lieferdiensten den heimischen Genuss auch von alkoholischen Getränken wieder zu einer positiv konnotierten Aktivität.
Lebensmittel: Lieferservices auf Erfolgskurs
Das Coronavirus hat über alle Bereiche und Ebenen der Lebensmittelindustrie hinweg das von uns bereits prognostizierte Wachstum von Home Entertainment und des Essens zu Hause weiter beschleunigt:
Eine unregelmäßige Auslastung des Lebensmitteleinzelhandels und zum Teil dramatische Einbrüche bei den Besucherzahlen von Restaurants und Fast Food-Filialen, treibt die Lebensmittelbranche zu beschleunigter Innovationstätigkeit an. So hat beispielsweise das Restaurant Canlis in Seattle im US-Bundessstaat Washington sein komplettes Geschäftsmodell geändert: War das Etablissement zuvor ausschließlich auf die gehobene Küche ausgerichtet, gehören jetzt Frühstücks-Bagel, ein Burger-Drive-In und ein Lieferservice zum Angebot.
Darüber hinaus führten auf globaler Ebene Lebensmittelliefer-Plattformen wie Deliveroo, UberEats und Glovo kontaktlose Lieferungen und bargeldlose Zahlungssysteme ein. In Indien startete Swiggy neben einer Hygieneberatung für die an die Plattform angeschlossenen Restaurants, eine an die Endkunden gerichtete Informationskampagne für die sichere Bestellung von Mahlzeiten, um so die Arbeitsbedingungen für ihre Lieferflotte zu verbessern.
In dem Maße, wie digitale Schnittstellen sich zu den neuen Ladenfronten für Gastronomie und Lebensmittelhandel wandeln, entstehen neue Möglichkeiten für die Entwicklung neuartiger Angebote rund um das als Erlebnis zelebrierte Essen. So haben beispielsweise in China Küchenchefs die Schließung ihrer Restaurantküchen genutzt, um den zu Hause gebliebenen Menschen in live gestreamten Kochkursen ebenso nützliche und lehrreiche wie unterhaltsame Inhalte anzubieten.
Und auch Lebensmittel online zu kaufen gehört mittlerweile zum Alltag vieler Menschen. Die meisten großen Supermarktketten bieten diesen Service bereits seit längerer Zeit an. Ein Angebot, was aktuell nur zu gerne angenommen wird.
Es lässt sich also festhalten: Die Weiterentwicklung der Liefer- und Gastronomieformate wird zu einem gesünderen und sichereren Lebensmittelangebot führen, wobei auch der Unterhaltungsaspekt des Essens eine zunehmend wichtige Rolle einnehmen wird.
Mit dem spannenden Thema Online-Shopping im Bereich Lebensmittel befasste sich übrigens auch der E-Grocery Congress auf der Anuga 2019. Viele Experten gewährten dort einen Einblick den Lebensmittelhandel 2.0.
Ist die Corona-Krise erst der Anfang für die Lebensmittelindustrie
COVID-19 ist wahrscheinlich nur die erste einer ganzen Reihe von Pandemien, die wir im kommenden Jahrzehnt erleben werden. Wenn Entwicklungen wie Globalisierung, die Überindustrialisierung unserer Nahrungsmittelkette und der Monokulturanbau unvermindert anhalten, werden ähnliche Ausbreitungen von Infektionskrankheiten nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sein.
Eine positive Auswirkung von COVID-19 besteht hoffentlich darin, als ein Weckruf zu fungieren, der ein stärkeres Bewusstsein schafft für die tatsächlichen Kosten einer Lebensmittelversorgung, die entlang der gesamten Lieferkette weniger auf Quantität und mehr auf Qualität setzt.
Lang lebe lokal: Urban Farming
Die aktuelle Situation bietet die Möglichkeit, gerade auch durch Veränderungen an der Basis ein Umdenken und eine Umgestaltung der Branche einzuleiten. Den Menschen wird bewusst, dass lokale Lieferketten eine große Marktmacht besitzen – und die Lebensmittelindustrie insgesamt sollte die jüngste Entwicklung zum Anlass nehmen, sich auf Praktiken zu besinnen, die ein Mehr an Nachhaltigkeit auf lokaler Ebene fördern.
Einer der Bereiche, die großes Potenzial bieten, ist Urban Farming. So wirbt Küchenchef Dan Barber, der sich bereits sehr in der US-amerikanischen „Farm-to-Table“-Bewegung, also vom Erzeuger direkt zum Verbraucher, engagiert hat, im Rahmen des „Kitchen Farming Project“ bei Köchen auf der ganzen Welt darum, Gärten anzulegen und sich aus diesen mit lokal angebauten Erzeugnissen für ihre Restaurants zu versorgen.
Die Einstellung der Verbraucher gegenüber Lebensmitteln hat sich praktisch über Nacht grundlegend verändert. Die Konsumenten verwenden mehr Aufmerksamkeit auf das Essen – teils aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens, teils um eine Abwechslung vom Alltag zu erleben und unterhalten zu werden. Noch wichtiger ist jedoch, dass bei vielen Menschen eine Schärfung des Bewusstseins für den tatsächlichen Wert der Lebensmittel, die sie zubereiten, auf den Tisch bringen und miteinander teilen, stattgefunden hat. So ist es unser Eindruck, dass während der Pandemie weniger Lebensmittel als noch vor der Krise weggeworfen werden. Wir erwarten, dass die Verbraucher künftig sehr viel sorgfältiger darüber nachdenken werden, welche Lebensmittel sie essen und dass sie diese Entscheidungen sehr viel genauer reflektieren werden – in ernährungsphysiologischer ebenso wie in sozialer und spiritueller Hinsicht.
Die Zukunft der Lebensmittelindustrie wird mit Sicherheit auch auf der kommenden Anuga wieder ein zentrales Thema sein. Bereits im letzten Jahr diskutierten Lebensmitteltechnologen, Hersteller und Händler auf der Innovation Food Conference über die Themen Nachhaltigkeit, Digitalism, Innovationen und New Foods.
The Future Laboratory ist eines der weltweit renommiertesten Beratungsunternehmen für strategische Zukunftsforschung. Mit einer einzigartigen Mischung aus fundierten Trendvorhersagen, einem vertieften Wissen um die Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucher, intelligenter Prognostik, Markenstrategie und Innovation inspirieren sie Organisationen, die ihre Zukunft bestens vorbereitet gestalten wollen.